blick in die Sammlung/3

2002/2003

DIE LEIPZIGER SCHULE
 
Rückblick und Vorausschau anbetracht der Leipziger Schule

I.
Bevor die Blicke in die Sammlung sich spezielleren Themen zuwenden, soll der Blick 3 noch einmal einen allgemeinen Einblick in die stilistische Vielfalt der Leipziger Schule geben. Auswahl und Hängung folgen also auch hier rein ästhetischen Gesichtspunkten, mit der Absicht, die qualitativen Aspekte zu veranschaulichen.

Noch immer ist die Sammlung nicht komplett, noch immer fehlen wichtige Namen. Und in Bezug derer die wichtigen Werke, die eine Sammlung erst groß machen.

Nicht nur die Reaktionen der Fachkritik und auch die der öffentlichen Meinung geben zu erkennen, dass sich das Konzept der Sammlung einerseits bewährt hat, andererseits sich so nahe zur gegenwärtigen Entwicklung der bildenden Kunst in Leipzig befindet, dass es schwer ist, mit dieser Schritt zu halten und es allen recht zu machen.

Bleibt vorerst nur zu hoffen, dass die Künstler, die noch nicht bedacht werden konnten, trotz ihrer bemerkenswerten Leistungen innerhalb der Leipziger Kunstentwicklung, nicht die Geduld verlieren.

Das zu bearbeitende Feld ist sehr groß und die Mittel und die Zeit dafür sind begrenzt.Und nicht selten muss kurzfristig umdisponiert werden, denn der Mechanismus des Sammelns, auch bei aller gebotenen Strenge und Disziplin, hat seine eigene Dynamik. Sowie es sich eben um eine Entwicklung handelt, die sich noch voll im Prozess befindet mit allen Unebenheiten und Überraschungen.

Hinzu kommt: Die Produktivität der Künstler ist gottlob ungebrochen. Und auch der Wille, sich zu wandeln. Beständig entstehen Werke, die es wert sind, ihnen die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Man denke zum Beispiel an die Scherenschnitte von Anette Schröter, an die neuesten Werke von Uwe Kowski, an die kontinuierliche Entwicklung eines Matthias Hoch, um nur, stellvertretend für viele, diese wenigen Beispiele zu nennen. Die Gestandenen sind selbst im hohen Alter noch voller Schaffenskraft. Und zu allem gesellt sich Jahr um Jahr eine Garde junger Künstler, die in manchem sehr viel versprechend ist.

Schaut man in die Kunstgeschichte, so verlaufen die Kunstentwicklungen Summa summarum in einem Zehnjahreszyklus. Und größere Entwicklungen währen meist nicht länger als dreißig Jahre. Es sei denn, es ist etwas Epochales im Vollzug.

Die Entwicklung in Leipzig, die für die Sammlung infrage kommt, umspannt inzwischen über fünfzig Jahre. Das ist ein halbes Jahrhundert Kunstgeschichte.

II.
Die Ausnahmesituation der Leipziger Kunstentwicklung anbetracht der eigenen, der sächsischen und der gesamtdeutschen Entwicklung ist in den beiden Katalogen Blick 1 und 2 bereits geschildert worden. Auch in Bezug auf die europäische Entwicklung sind die ersten Andeutungen gemacht worden. Ob es eine Bedeutung im Hinblick auf die Weltkunstentwicklung gibt, das ist vorerst kaum zu benennen, weder im positiven noch im negativen Sinne. Entsprechende Einflüsse sind bisher erkennbar nur von Dresden ausgegangen.

Jedoch, es sind vorsichtige Andeutungen in diese Richtung durchaus denkbar: Als anlässlich des siebzigsten Geburtstages von Werner Tübke in Bad Frankenhausen eine Ausstellung stattfand, in der u. a. eine Reihe von Bildern gezeigt wurden, die bis dahin in Europa kaum zu sehen waren, da sie auf kürzestem Wege vom Atelier über den großen Teich nach Nord- und Südamerika gelangten, da wurde eine Ahnung möglich, von der weltweiten Bedeutung seiner Kunst. Denn die weltweite Bedeutung einer Kunst misst sich ja nicht an den kunstkritischen Befindlichkeiten allein der Deutschen.

Ähnliches zeigte sich, als vor drei Jahren in Leipzig eine große, bemerkenswerte (leider kaum beachtete) Ausstellung zur Technik des Kupferstiches stattfand. Mitbeträchtlichem Abstand zum Übrigen zeigte sich anhand dieser Ausstellung die Leistung Baldwin Zettls. Vergleichbar für die Schablithografie könnte man hier in diesem Sinne Rolf Münzner nennen. Im Bereich der freien Glaskünste Ulrike & Thomas Oelzner.

Dass der im Moment weltweit am teuersten bezahlte lebende Fotograf, Andreas Gursky, in Leipzig 1955 geboren wurde und die ersten Jahre seines Lebens dort aufgewachsen ist, hat gewiss nur den Wert einer Anekdote. Setzt man aber die Leistungen junger Leipziger Fotografen daneben und zieht in der Tradition Meister und Meisterinnen wie z. B. Evelyn Richter mit in Betracht, dann könnte man schon vermuten, dass sich Leipzigs Bedeutung dem gemäß nicht allein auf den einstigen weltweiten Ruhm als Fotozentrum (um 1900) beschränken muss, sondern berechtigte Hoffnung auf mehr gibt. Das alles natürlich mit allen Vorbehalten. Die Einschätzung des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere in Sachen Kunst, wird, wie es auch den vorherigen Jahrhunderten geschehen ist, erst eine geraume Zeit danach erfolgen.

III.
Die nun bereits, wie erwähnt, gut fünfzig Jahre währende Entwicklung der bildenden Kunst in Leipzig besitzt vorerst wenig Merkmale einer Auflösung. Im Gegenteil, der Moment der Hoffnung für die Zukunft lässt starke Impulse erkennen. Man denke nur an den augenblicklichen kometenhaften Aufstieg Neo Rauchs und die damit verknüpfte stimulierende Wirkung auf die junge und jüngste Generation. Wer hier vergleichbare Entdeckungen machen will, wird noch einige originelle, eigenständige und vor allem hochproduktive Talente finden.

Auch im Bereich der Fotografie scheint der Fluss der Nachdrängenden noch nicht zu versiegen.

Zu allem gibt es immer wieder Neues auch im Alten zu entdecken. Noch immer verbergen sich Teile individueller künstlerischer Entwicklungen in Kellern und auf Dachböden. Noch immer gibt es ganze Lebenswerke, die beachtenswerter Bestandteil der Leipziger Kunstentwicklung sind und doch von der Öffentlichkeit, aber auch von den meisten der Fachleute, noch nicht gesehen wurden, da sie sich ausschließlich, verstreut, in privatem Besitz befinden.

Der Verlauf der deutsch-deutschen Geschichte hat seine Spuren auch hier hinterlassen und Talente ins öffentliche Abseits gedrängt, bevor auch nur ahnungsweise die Öffentlichkeit davon Kenntnis nehmen konnte. Und diese deutsch-deutsche Geschichte ist in ihrem Verlauf mitunter noch verrückter gewesen als es den meisten bisher bewusst geworden ist. So gibt es vergleichbare Schicksale in Ost und West, die in unterschiedlichen Staatsformen den gleichen Verursacher hatten: Gleich wie, es war auf beiden Seiten der eigentliche Urheber das Denken jener diktatorischen Strukturen, die von links oder rechts das zwanzigste Jahrhundert erschütterten (vor und nach 1945) und in Deutschland vor allem auch die Generation trafen, die in den fünfziger Jahren ihren eigentlichen Höhepunkt hatte. Jene Künstler, die sich der Fortführung der klassischen Moderne der Vorkriegszeit verpflichtet fühlten, mit den großen Anregern Picasso, Matisse, Miró usw. Aber auch der deutsche Verismus bleibt, vor allem im Westen, lange Zeit nach dem Kriege unbeachtet.

Der Einfluss Amerikas spätestens ab 1962 (2. Biennale in Venedig) und eine auch personell in der Selbstdarstellung potente und im Durchsetzungsvermögen nicht zimperliche neue Generation (Beuys, Baselitz, Lüpertz etc.) machten im Westen besagte Kunstentwicklung, von der bereits schon Ende der sechziger Jahre niemand mehr Kenntnis nahm, zu einem Niemandsland. Namen wie Nay oder Schumacher z. B. waren damals zwar einem eingeweihten Kreis ein Begriff, die Allgemeinheit aber wusste nichts davon.

Und leider war noch hinzugekommen, dass ab den 50er Jahren die klassische Moderne in tödlichem Maße vom Kommerz adaptiert wurde bis hinein in die heile Welt des Kleinbürgertums (Der Nierentisch ist nur die bekannteste Form dieser Entgleisungen). Alles was auch nur andeutungsweise damit in Verbindung gebracht werden konnte, war fortan für die gehobenen Kunstbereiche nicht mehr akzeptabel (Man denke hier z. B. an die unzähligen Wandbehänge und Gipsschnitte in den guten Stuben der breiten Öffentlichkeit).

So wurde diesen Künstlern im Westen nach der nationalsozialistischen Verfolgung und Verunglimpfung (Entartete Kunst, Malverbot etc.) nach dem Kriege und dem Ende des Nationalsozialismus eine zweite Missachtung oder wenn auch nur Nichtbeachtung zuteil.

Im Osten blieben sie zwar gleichfalls in den Museen, soweit sie dort das tausendjährige Reich überstanden hatten oder durch andere Umstände nach dem Kriege dahingelangten. Und man zeigte auch das Wenige, das es gab. Aber an den Kunsthochschulen wurden alle Lehrauffassungen, die dahin tendierten, abgeschafft, kaum dass sie nach Kriegsende mit großem Enthusiasmus zu neuem Leben erwacht waren. Alles Weitere hatte keine Chance in die Öffentlichkeit der sozialistischen All- und Festtage zu gelangen – ausgenommen natürlich der Nierentisch, die Wandbehänge und Gipsschnitte.

Nur der Verismus fand im Osten Deutschlands durch seine stilistische Nähe zur proletarisch-revolutionären Kunst bereits seit den sechziger Jahren etwas früher Beachtung. Ebenso der Expressionismus durch Künstler wie Meidner oder Kokoschka. Menzel war nach Kriegsende bis in die fünfziger Jahre auf beiden Seiten bestens bekannt und in der Rezeption seiner Werke gefördert.

Wer sich an Picasso, Miró usw. anlehnte, hatte es schwer und ließ bald wieder davon ab (z. B. Tübke, Sitte, H. Müller etc.). Die, die daran festhielten (Martin, Trauzettel, Frühauf z. B.), blieben unbekannt. Mancher bis heute. – In den Sonderausstellungen der Kunsthalle der Sparkasse werden wir uns diesen Themen, soweit es noch möglich ist, zuwenden.

Es wird also auch hier ersichtlich, dass nicht nur zur Gegenwart hin, sondern ebenso zur Vergangenheit noch manches aufzuarbeiten ist, um die Sammlung in den Zustand zu bringen, dass sie für die zukünftigen Generationen den besten Einund Überblick gibt über die Leipziger Kunstentwicklung von 1946 bis heute (Man sollte zusätzlich dabei nicht vergessen, welche wichtige Rolle eine bemerkenswerte mKunstentwicklung für die Identifikationsmöglichkeiten mit einer Stadt spielt. Und mwie wichtig es ist für das Rufbild dieser Stadt nach innen und nach außen. Die Stadt sollte dankbar sein, über dergleichen verfügen zu können).

IV.
Gegenstand der Sammlung ist die Kunstentwicklung in Leipzig von 1946 bis heute mit Schwerpunkt in Richtung der Leipziger Schule. Hier stellt sich die Frage, ab wann es sich von einer Leipziger Schule sprechen lässt?

Es wurde in den vorangegangenen Katalogen dargelegt, dass sich der Begriff der Leipziger Schule nicht allein auf die Hochschule für Grafik und Buchkunst begrenzen lässt. Obwohl es in diesem Zusammenhang einen Moment gibt, der für die Entwicklung der Leipziger Schule von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Es ist das der Moment, als es Bernhard Heisig gelang, 1961 die erste freie Malklasse an der HGB einzurichten. Bis dahin war die HGB eine reine Schule für die angewandten Künste.

Unter dem Gesichtspunkt aller stilistischen Entwicklungen, die sich innerhalb der Leipziger Schule entfalteten, muss man aber den Beginn auf das Jahr 1946 legen, spätestens auf das Jahr 1948, dem Jahr der ersten Leipziger Messe nach dem Kriege.

Eindeutig sichtbar in seiner Kraft, Vielgestaltigkeit und inhaltlichen Bedeutung wird diese Entwicklung aber dergestalt, dass man schon damals von einer Leipziger Schule hätte sprechen können anlässlich der Ausstellung zum 20. Jahrestag der DDR im Messehaus am Markt.

Gleich einem gewaltigen Paukenschlag, der sehr unangenehm bis in die höchsten Ohren nach Berlin (Ost) gelangte, war Leipzig, jedenfalls zunächst für den Osten Deutschlands, über Nacht im Gespräch. Und als spätestens 1974, anlässlich der VII. DDR-Kunstausstellung in Dresden auch der Westen interessiert auf die Ostkunst blickte (siehe z. B. Sammlung Ludwig), da war es der Leipziger Beitrag, der vor allem diese Aufmerksamkeit nach außen hin erzielte.

Um 1983 dann gab es keine Kunsthochschule mehr im Osten, die nicht von Künstlern dominiert wurde, die aus Leipzig kamen oder dort nur studiert hatten oder auch indirekt von Leipzig her beeinflusst waren.

Dass es der Leipziger Kunstentwicklung im Hinblick auf die Kunstentwicklung im Osten letztendlich nicht so erging, wie der alles niedermachende Einfluss Klingers auf die Kunstentwicklung in Leipzig seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, das ist wohl allein wieder den Leipziger Bürgern zu verdanken, als sie mit ihrer Zivilcourage im Herbst 1989 das Ende der DDR einläuteten und damit die alles vereinnahmende Entwicklung der Leipziger Kunst stoppten und in eine andere, nicht weniger potente, aber freiere Bahn lenkten.

Ob von innen oder von außen, die Versuche, die Leipziger Kunstentwicklung der letzten vierzig Jahre zu bagatellisieren, zu verneinen oder totzuschweigen, haben aufgehört. Auch der Begriff der Leipziger Schule hat sich als praktikabel gezeigt. Und wenn es gelingt, ihn als Synonym und Garantie für hohe künstlerische und handwerkliche Qualität fortzuführen, wird das lange ein gutes Omen sein, denn die nationale und internationale Kunstentwicklung kommt diesem Credo zunehmend entgegen.

Es ist aber nicht nur die künstlerische und handwerkliche Qualität allein, die die Maßstäblichkeiten für den Begriff Leipziger Schule setzen. Es lassen sich auch andere Gemeinsamkeiten entdecken, die Grund genug geben, dass der Begriff bestehen bleibt. Doch davon später.

Leipzig, im September 2002

Claus Baumann