NIKE
26.09. – 21.10.2002
Ausstellung der Freien Akademie der Künste zu Leipzig anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens
Die Figur der Nike war, „fern den großwüchsigen Stämmen ihrer verfelsenden Insel“, wie es bei Erich Arendt heißt, häufig der einseitigen Anverwandlung ausgesetzt: Die Allegorie des Sieges, von Zeus oder Athene (die zuweilen selbst als Nike erschien) für Kriegs- und Sporterfolge ebenso verliehen wie für den Triumph als Künstler, wurde oft und gerne, zumal im 19. Jahrhundert, als Gleichnis für Kriegsgeschehen schlechthin benutzt. Und häufig genug waren es Nike-Figuren – oder Viktorien, wie sie in römischer Zeit hießen –, die den Tod veredeln sollten zur besten Tat fürs Vaterland. Strahlende Siege überall. Und gesiegt wurde ganz selbstverständlich auch auf dem Feld des Geistes. Kein Wunder also, dass wiederum Niken, hier immerhin geschaffen von Christian Daniel Rauch, die deutschen Geistesheroen bei ihrem Einzug in Walhalla begrüßten.
Künstler der Freien Akademie der Künste zu Leipzig befassen sich anlässlich ihrer Ausstellung zu Ehren des zehnjährigen Bestehens mit dem Thema Nike. Ein Missverständnis? Wohl kaum. Eher die Fähigkeit zu Fragen, zu Ironie und Selbstironie. Sieg natürlich nach 1989, das schier endlose Freudenfest auf den Trümmern von Mauern der Geschichte. Und die Ernüchterung alsbald, da die Mühen der Ebene sich vielfach nicht als Mühen, sondern als Ignoranz und Verlust erwiesen. Sage keiner, der Sieg sei nicht bezahlt worden. Zumeist, wie immer schon, mit gelebtem Leben. Aber er erwies sich auch hier nur- noch einmal mit Arendt - im „Sekundenblick (Massen)schön“. Es verhielt sich mit diesem Sieg ein bisschen so, wie mit der Nike von Samothrake, deren große, ins Historische dimensionierte Geste, mit der sie sich dem Fahrtwind des Schiffes entgegen zu stemmen scheint, im wirklichen Leben nur noch als Filmattitüde aus „Titanic“ begriffen wird: das romantische Liebespaar mit den ausgebreiteten Armen. Anders gesagt: Das lang erwartete historische Ereignis, das Neue, entpuppte sich schlussendlich als das, was man schon kannte.
Vielleicht haben die Teilnehmer der Love Parade die größte Distanz. Sie tanzen um Friedrich Drakes Nike auf der Berliner Siegessäule: ein toll aufgemachtes Weib, klasse Kostüm. Die feiern, schleppen keine Geschichte mit sich, wägen nicht Vergangenheit und Zukunft ab. Das Leben ist heute. Diese Haltung würde bei den Künstlern Ironie oder Zynismus heißen. Deshalb arbeiten zumindest sie sich an der Erkenntnis ab, dass der Sieg nie eine strahlende Jungfrau ist, sondern immer ein Engel mit gebrochenen Flügeln.
Peter Guth