Gerald Müller-Simon

30.11.2001 – 11.08.2002

Zeichnung und Grafik / Keramik und Stillleben

Gerald MülLer-Simon zeichnung und grafik / keramik und stillleben Die Bedeutung seiner Werke muss man nicht betonen. Der Kreis ihrer Liebhaber ist groß. Unbestritten sind die Gemälde mit den Psychogrammen Leipziger Urbanität der Höhepunkt innerhalb seines künstlerischen Schaffens. Und gewiss fast jeder wird zunächst an diese denken, wenn von Gerald Müller-Simon die Rede ist.

Die Ausstellung zu seinem 70. Geburtstag in der Kustodie der Universität war auch ausschließlich, mit Ausnahme weniger Interieurs, der Thematik seiner Stadtbilder gewidmet. Von daher war es für viele überraschend, dass noch im selben Jahr in der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig eine zweite Ausstellung mit Werken Gerald Müller-Simons stattfinden soll.

Aber warum nicht? Es kennen nur wenige seine Grafiken. Noch wenigere kennen seine Zeichnungen. So gut wie unbekannt in der breiten Öffentlichkeit sind seine keramischen Arbeiten und damit seine Beschäftigung mit dem plastischen Gestalten. Die Überraschung aber dürften zweifelsohne die Zeichnungen aus den Skizzenbüchern sein, die zwischen 1954 und 1978 ausschließlich in der intimen Atmosphäre seines familiären Umfeldes entstanden.

Ausgehend von seinen menschenleeren Häuserlandschaften kann man zu der Überzeugung gelangen, dass die menschliche Figur ihm, aus welchen Gründen auch immer, völlig gleichgültig war und ist. In Anbetracht seiner Interieurs und Stillleben steigert sich der Eindruck, dass er in keinem Falle (z. B. im veristischen Sinne) an der Sache des dargestellten Gegenstandes interessiert sei, sondern nur an dessen atmosphärischer, im Spiel des Lichts aufglühender Erscheinung. Und dies nur soweit, wie es sich mit einem eben scheinbar ausschließlich „impressionistischen“ Malstil erfassen und wiedergeben lässt. Blättert man aber in den Skizzenbüchern, so begegnet einem eine völlig andere Sicht- und Darstellungsweise: Die menschliche Figur ist dominant zugegen. Und zuweilen öffnen sich die Landschaften in Gerald Müller-Simon einen Fernblick, der tief in den Raum greift, wie es im Hauptwerk Müller-Simons noch bis heute fehlt, denn selbst die neueren Stadtansichten, in denen sich der Raum zu öffnen versucht, sie drängen eigentlich noch immer in die Fläche, legen den Horizont hoch. Anders verhält es sich in den Skizzenbüchern, als käme dort, im Bereich des Privaten, die stille Sehnsucht nach der Weite zum Vorschein, die bei vielen Menschen der DDR-Zeit das Leben oft schmerzhaft prägte.1

Seit Picasso wissen wir, dass unterschiedliche stilistische Vorgehensweisen im Werk ein und desselben Künstlers, zeitlich gesehen, nebeneinander geschehen können. Seitdem wissen wir aber auch, dass fast alle Künstler bemüht sind, mit möglichst nur einer – markanten – Handschrift ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu gelangen. Warum? Weil die Öffentlichkeit seit 200 Jahren sich immer weniger befähigt, ein künstlerisches Werk an seiner Qualität zu messen, dafür aber um so mehr leicht zu erkennende Standards bevorzugt, die sich quasi im Vorrübergehen für jeden und jede mit einem berühmten Namen in Verbindung bringen lassen.2

Verbirgt sich hinter diesen sozial bedingten Gegebenheiten der Grund, warum in den Skizzenbüchern, und ausschließlich bei diesen, konträre Stilmittel angewandt wurden? Oder liegt es an der simplen Tatsache, dass diese Zeichnungen allein mit dem Kugelschreiber gezeichnet wurden? Einem Schreibgerät, das wenig Widerstand erzeugt beim Gleiten (eigentlich Rollen) über das Papier. Betrachtet man jedoch zum Vergleich die Kugelschreiberzeichnungen Ursula Mattheuer-Neustädts, so beweist sich dort, dass auch der Kugelschreiber nicht nur eine Stilistik der reinen Linie, sondern ein viel breiteres Spektrum zeichnerischer Möglichkeiten erlaubt. Bedenkt man zudem, dass in den Skizzenbüchern eben allein die private, familiäre Atmosphäre behandelt wird. Oder aus dieser heraus die Zeichnungen entstehen. So lassen sich zunächst zwei Gründe eingrenzen:

Erstens eine offensichtliche genaue Trennung zwischen den privaten und den beruflichen Teilen des Lebens (Wer Müller-Simon etwas genauer kennt, weiß, mit welcher Disziplin, regelrecht auf Arbeit gehend, er das tägliche Pensum, tätig, im Atelier bewältigt).

Zweitens eine ebensolche genaue Trennung zwischen den privaten und den öffentlichen Bereichen, denen auch bildende Künstler (schon allein durch Ausstellungen) immer wieder ausgesetzt sind. Und deshalb ist diese Trennung bei Künstlern auch nicht die Selbstverständlichkeit (Manche offenbaren sich bis ins Schlafzimmer in den öffentlichen Raum hinein). In der DDR, wie schon erwähnt, geschah dies allein aus Gründen der eigenen Absicherung gegen die Willkür und das Denunziantentum dieses Staates.

Aber auch noch ein dritter Beweggrund liegt nahe: Das Zeichnen mit der reinen Umrisslinie ermöglicht es, ohne großen Zeitaufwand und unmittelbar, was interessiert, zu notieren. Eine sehr alte Form des Skizzierens. Aber spätestens seit Picassos Grafikfolge, der „Suite Vollard“ von 1933, eigentlich bereits seit dem Porträt des Dichters Guillaume Apollinaire von 1916, wurde diese Art des Zeichnens zu einer stilistischen Besonderheit, die seitdem unzählige Künstlerinnen und Künstler herausgefordert und beeinflusst hat. Zeitweise wurde dieser Stil im zwanzigsten Jahrhundert zu einer regelrechten Manie, so dass die Künstler, die auf sich hielten und nicht in den Ruf des Picasso-Plagiates gelangen wollten, in diesem Stil geschaffene Zeichnungen vor der Öffentlichkeit verbargen. Der Faszination dieser Art des Zeichnens konnten sich aber die wenigsten entziehen. Sie entsprach zu sehr dem Zeitgefühl.3 Und ist zudem für die Virtuosität eines jeden Zeichners eine Herausforderung.

Diesen Moment der Herausforderung kann man auch bei den Zeichnungen in Gerald Müller-Simons Skizzenbüchern finden. Und da es offensichtlich keine Vorstudien oder sonstigen Übungen dazu gab, ist die Sicherheit, mit der Müller-Simon auch diesen Stil beherrscht, beeindruckend. Vor allem wird dabei etwas nachvollziehbar, was sich auf den ersten Blick angesichts seiner impressiven Häuserlandschaften nicht gleich erkennen lässt: Ein wesentliches Geheimnis dieser Gemälde liegt wahrscheinlich in der großen (beinahe veristischen) zeichnerischen Fähigkeit Müller-Simons.4

Dieses zeichnerische Vermögen zeigt sich bereits bei den frühen Arbeiten, die noch während des Studiums oder kurz danach entstanden. Es sind akademische Zeichnungen, die den Einfluss der damaligen Orientierung der Hochschule für Grafik und Buchkunst, vor allem an Menzel, erkennen lassen (vergl. AVZ 2, 4, 6, 9, 10, 11). Von einer eigenen Handschrift kann man angesichts dieser Arbeiten noch nicht sprechen. Es zeigt sich lediglich, dass auch diese zeichnerische Auffassung Müller10 Simon keine Probleme bereitete. Im Gegenteil, die Leipziger Stadtansichten jener Tage vermitteln nur bedingt den Eindruck, von einem Studienabgänger zu stammen. Sie sind sicher in jedem Strich. Diese handwerkliche Fertigkeit setzt sich dann auch fort in den frühen Farblinolschnitten, die teilweise einen Grad der Perfektion erreichen, dass man froh ist, dass es sich dabei nur um eine anfängliche Episode handelt (vergl. AVZ 58, 59, 60, 63, 64, 67, 68), die augenscheinlich bereits während ihrer Entstehungszeit durch Müller-Simon selbst infrage gestellt wird, denn sowohl in der Malerei als auch in unmittelbarer Nähe der akademischen Zeichnungen entstehen Arbeiten, die sich mehr am Expressionismus orientieren und den Beginn des stilistischen Formenkanons bilden, der die unverwechselbare Handschrift Müller- Simons prägt (vergl. AVZ 1, 3, 5, 7, 8, 12, 61, 85). Es ist überhaupt eine Neigung zum Expressiven, die dieser Handschrift zugrunde liegt. Und genau genommen ist es auch falsch, bei Müller-Simons Bildern Begriffe wie „impressiv“ und „Impressionismus“ zu verwenden.5

Noch zwei grundlegende Merkmale seiner Kunst lassen sich nennen, die sich anhand des zeichnerischen OEuvres am leichtesten erkennen lassen:

Einmal die Nähe zum Gegenstand, zur Natur. Sie bestimmt zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn generell seine Arbeit, sowohl in der Zeichnung als auch in der Grafik und in der Malerei. Sie blieb bis heute nur in der Zeichnung erhalten. In den Skizzenbüchern, in den Aquarellen und Sepiazeichnungen.

Sehr früh wird in der Malerei die Naturnähe immer weniger prägend. Und über die Orientierung am Expressionismus (vergl. z. B. AVZ 61) beginnt dort zuerst sich jener Stil zu entwickeln, bei dem besagte Naturnähe durch eine – dem inneren Auge folgende – Darstellungsweise ersetzt wird. So sind die Stadtbilder, die in diesem Stil entstehen, gleich ob in der Zeichnung, der Grafik oder der Malerei, mit wenigen Ausnahmen keine Stadt- oder Häuserporträts, sondern Erfindungen aus der Erinnerung. Und der Prozess des Zeichnens, Radierens oder Malens ist der primäre Anlass und Maßstab, nicht die Darstellung. Es ist eigentlich ein „informeler“ Zustand 6, der es Müller-Simon auch immer wieder schwer macht, z. B. Titel für seine Bilder zu finden, denn in Bezug auf den imaginären Bereich unserer Wahrnehmungen ist es fast unmöglich mit konkreten Begriffen sich unmissverständlich zu verständigen ... 11

Auch seine keramischen Werke (Büsten, Ganzfiguren und Kacheln mit teilweise reliefartiger Ausformung) gehören in den Kreis seiner imaginären Werke. Das heißt, sie sind Erfindungen. Und ganz im Sinne eines guten Nippes, allein für Liebhaber, weniger für die große Öffentlichkeit. Letzteres gilt eigentlich für das gesamte zeichnerische Werk Müller-Simons. Aber das ist keine Besonderheit dieses Werkes. Das ist so bei den meisten Künstlern. Und deshalb lässt sich auch anhand ihrer Zeichnungen am tiefsten die Person einer Künstlerin oder eines Künstlers ergründen. Ob man alles erkannte aber auch ausplaudern sollte? Wohl eher nicht.

Leipzig, im Juni 2001
Claus Baumann

 

Anmerkungen

1 Es ist bei den meisten Künstlern, die innerhalb der DDR groß geworden sind, zu bemerken, dass nach der Wende, genauer noch, ab etwa 1994 (bis dahin war für manchen die Zeit noch recht ungewiss), die Paletten beginnen sich aufzuhellen und in den Kompositionen ist eine Veränderung dahingehend zu verzeichnen, dass der Horizont zunehmend tiefer gelegt wird, gleichsam als verschwinde eine Mauer und der Blick wird frei und weit. Das ist auch bei Müller-Simon zu verzeichnen. Allerdings muss man der Genauigkeit halber hinzufügen, dass der Anstoß für den ersten tiefer gelegten Horizont von außen kam. Um 1995 äußerte Peter Krakow den Wunsch, Müller-Simon möge doch einmal einen Blick von fern her auf Leipzig malen (Das Bild befindet sich heute im Besitz von Ursula und Wolfgang Mattheuer). Seit jenem ersten Versuch häuften sich dann vergleichbare Darstellungen.

2 Die genannten 200 Jahre sind genau genommen nicht exakt, denn bereits in der Antike bei den Römern wird das Phänomen des „name-shoping“ beschrieben. Im übrigen die beste Voraussetzung für das Geschäft mit Fälschungen, schlechten Nachahmungen und selbsternannten Experten.

3 Man kann Parallelen zur Improvisationstechnik des Jazz und dessen Wechselspiel zwischen dem vorgegebenen, klar umrissenen Motiv und der davon ausgehenden Improvisationslinie herstellen. Auch bei dieser Art des Zeichnens sind das Thema, das Motiv vorgegeben und klar umrissen, während die Linienführung Aspekte der Improvisation aufweist. Sie gleitet zuweilen scheinbar aus, um am Ende in ihrer Summe dann doch ein harmonisches Ganzes der Zeichnung zu ergeben ...

4 Genau das gleiche Phänomen lässt sich bei der Malerei Hartwig Ebersbachs feststellen. Die Magie seiner Bilder kommt nicht durch deren anscheinend chaotische Malweise, die die Gemälde in ihrer Oberfläche auf den ersten Blick eruptiv wirken lässt, während man bei genauerer Betrachtung in der Tiefe dieser Bilder das ungeheuer stabile Gerüst der genialen zeichnerischen Fähigkeiten Hartwig Ebersbachs erahnen kann. Das wurde spätesten dann ganz deutlich, als eine Reihe seiner Schüler lediglich die Oberflächenerscheinung der Hartwig Ebersbach'schen Bilder sich zu eigen machte und sich ein jeder wunderte, warum die daraufhin entstandenen Bilder so flach blieben.

5 Es ist hier leider nicht der Platz, um ausführlicher zu beschreiben, warum bei Müller-Simons Gemälden z. B. der abstrakte Umgang mit der formalen Spezifik der Farbe im Verhältnis zu einer bestimmten Lichtkonstellation das Primäre ist, und das Motiv mit seiner Gegenständlichkeit nur eine sekundäre Beigabe. Verweisen will ich wieder auf die Malerei Hartwig Ebersbachs, bei der in Form wenigstens eines Gesichtes stets immer ein Gegenstand zugegen ist, obwohl seine Malweise den Eindruck erweckt, sie sei eigentlich gegenstandslos gemeint. Die „Ungegenständlichkeit“ (Nonfiguration) ist den Sachsen halt offensichtlich nicht möglich.

6 „Informel“ ist der Begriff für die Abkehr von der geregelten Formstruktur und Hinwendung zur spontanen Gestik des künstlerischen Schöpfungsprozesses aus der Imagination. Dieser Begriff ist insofern etwas missverständlich, weil er sich nur im Vergleich zum Akademismus anwenden lässt. Er ist jedoch auf besagte Werke Müller-Simons anwendbar, weil er den „künstlerischen Schöpfungsprozess aus der Imagination“ benennt.